Cover
Titel
So fern, so nah. Die beiden deutschen Gesellschaften (1949–1989)


Autor(en)
Budde, Gunilla
Reihe
Geteilte Geschichte
Erschienen
Stuttgart 2023: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
259 S., 12 Abb.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralph Jessen, Historisches Institut, Universität zu Köln

Eine Beziehungsgeschichte der beiden deutschen Gesellschaften in der Teilungszeit mit der einfühlsamen Schilderung einer deutsch-deutschen Liebesgeschichte zu beginnen, ist so ungewöhnlich wie die romantische Affäre selbst, die sich zwischen dem niedersächsischen Oldenburg und dem thüringischen Gumperda abspielte. Ungewöhnlich und zugleich charakteristisch für den Zugriff, den Gunilla Budde wählt, um den Unterschieden und Ähnlichkeiten, den Entfremdungen und – mehr noch – den Verflechtungen zwischen Ost und West nachzugehen. Die als Kennerin der Geschichte des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, der Familien- und Geschlechtergeschichte sowie der deutschen Zeitgeschichte ausgewiesene Historikerin verschränkt in ihrer dichten Überblicksdarstellung der deutschen Nachkriegsgesellschaften nämlich auf erhellende Weise sozialgeschichtliche mit erfahrungsgeschichtlichen Zugängen. Ihre Gesellschaftsgeschichte der Teilung erschöpft sich weder in blutleeren Analysen strukturellen Wandels noch verliert sie sich in anekdotischen Einzelfallschilderungen. Vielmehr folgt sie einer systematisch vergleichenden Perspektive auf vierzig Jahre verflochtener Parallelentwicklungen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sowie der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und führt dabei gleichzeitig den Leserinnen und Lesern immer wieder vor Augen, was diese für die Lebenswelten und Erfahrungen der Menschen diesseits und jenseits der Grenze bedeuteten.

Zu den Vorzügen des Buches gehört es, dass die Verfasserin auf eine typologisierende Gegenüberstellung der Gesellschaften östlich und westlich der Elbe verzichtet, die leicht schematisch werden kann und überdies das Risiko erhöht, die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft unreflektiert zum Normalfall zu erklären. Stattdessen erschließt sie die beiden deutschen Gesellschaften unter sechs übergreifenden Gesichtspunkten, die sich wiederum in etliche Einzelaspekte auffächern, deren Entwicklung sie über den gesamten Betrachtungszeitraum nachzeichnet. Dabei folgt Budde einem gewissermaßen „problemorientierten“ Darstellungsmodus, indem sie danach fragt, wie man in Ost und West etwa mit den Herausforderungen der Vertreibungen nach 1945 oder der sich wandelnden Jugendkultur seit den 1950er-Jahren umging. Der Band bekommt so eine übersichtliche systematische Gliederung, während die chronologischen Durchgänge auf der Ebene der Einzelaspekte Wandel und Dynamik abbilden – je nach Gegenstand, Zeit und Ort mal mehr, mal weniger. Dabei wechselt die Darstellung immer wieder zwischen beiden Seiten hin und her, zeigt Ähnlichkeiten auf und kontrastiert Unterschiede, zeichnet Verflechtungsverhältnisse nach und veranschaulicht anhand ausgewählter Egodokumente und Zeitzeugeninterviews, wie sich „Gesellschaft“ auf der Mikroebene materialisierte, wie sie gemacht und erfahren wurde.

Der Zuschnitt der sechs Hauptkapitel deckt vieles ab, was man von einer auf Überblick angelegten Darstellung erwartet. Anderes wird eher am Rande angesprochen. Auch lässt die Gegenstandsauswahl die besonderen Interessen der Autorin erkennen. Klassische gesellschaftsgeschichtliche Themen werden erweitert um Aspekte der politischen Kultur- und Protestgeschichte – zum Teil in ungewöhnlichen Kombinationen. Das zeigt sich schon im ersten Kapitel über „Gesellschaften in Bewegung“ (S. 14). Es behandelt die Folgen von Flucht und Vertreibung nach 1945 sowie das sozialgeschichtliche Megathema der sozialen Hierarchisierung, aber auch die Art und Weise, wie sich Ost und West der NS-Vergangenheit stellten beziehungsweise nicht stellten.

Das folgende Kapitel vertieft das Problem sozialer Ungleichheit unter der Perspektive der Bildungs- und Geschlechter-„Gerechtigkeit“. Bekanntlich hat die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) aus ideologischen wie aus ökonomisch-pragmatischen Gründen eine egalisierende Politik sozialer „Gegenprivilegierung“ zugunsten der unteren Schichten sowie der weitgehenden Erwerbsintegration von Frauen betrieben und dies im Wettbewerb mit der Bundesrepublik sowie ihren verhärteten Ungleichheitsstrukturen immer wieder selbstbewusst herausgestrichen. Pointiert zeichnet Budde Reichweite, Grenzen und Widersprüche dieses Konkurrenzkampfes um Gerechtigkeit nach, verweist auf stimulierende Effekte der östlichen Entwicklung für die westlichen Reformdebatten, konstatiert aber auch eine starke Persistenz „bürgerlicher“ Privilegierung und Lebensführung – nicht nur in der BRD, sondern auch in sorgsam abgeschirmten Refugien der „sozialistischen Intelligenz“ in der DDR.

Mit besonderem Gewinn liest man die anschließenden Abschnitte zu Familie, Kindheit und Jugend in beiden deutschen Gesellschaften, denen die Autorin deutlich mehr Aufmerksamkeit schenkt, als es sonst üblich ist. Hier spielt sie ihre Forschungserfahrungen auf dem Feld der Bürgertums-, Geschlechter- und Familiengeschichte aus. Aufschlussreich sind die Beobachtungen zu den beiden „Familiengesellschaften“ allemal: Die politische Regulierungs- und Gestaltungsmacht des SED-Regimes endete oftmals an der Wohnungstür, ausgeprägte Endogamie bremste die soziale Durchmischung im Westen wie im Osten. Nichteheliche Mutterschaft war in der DDR weit früher als in Westdeutschland ein akzeptiertes Familienmodell, wobei die Betreuungsarbeit mit oder ohne Trauschein überwiegend bei den Frauen lag, denn aller Gleichheitspropaganda zum Trotz machten sich die ostdeutschen Männer wie ihre westlichen Geschlechtsgenossen im Haushalt eher rar. Im Mikrokosmos des Familiären, Privaten und Intimen konnten „gesellschaftspolitische“ Interventionen besonders fühlbar werden: Wurde die Erwerbstätigkeit von Müttern gefördert oder war sie verpönt, gab es Kindergartenplätze oder nicht, waren Schwangerschaftsabbrüche legal oder illegal, dominierte die Familie als Sozialisationsinstanz oder konkurrierte sie mit politischen Organisationen. Andererseits war die Familie ein Raum tradierter Konventionen, Üblichkeiten und Normalitätsvorstellungen mit zäher Veränderungsresistenz. In kaum einer gesellschaftlichen Sphäre überlagerten und durchdrangen sich Wandel und Beharrung, Intervention und Eigen-Sinn so vielfältig und widersprüchlich wie „in der Familie“ Ost und West.

Im Vergleich dazu war das Verhältnis zwischen beiden „Konsumgesellschaften“ eindeutig, denn schon in den 1950er-Jahren zeichnete sich ab, dass die DDR im Vergleich zum westdeutschen Wirtschaftswunderland ins Hintertreffen geriet. Den Abschluss des Bandes bildet ein Kapitel zu den „Zivilgesellschaften“, in dem es um die Friedens-, Umwelt und Frauenbewegungen in beiden Ländern geht. An dieser Stelle wirkt die durchgängige Rede von den „Gesellschaften“ schief. Zum einen, weil die angesprochenen Protestbewegungen selbst in der westdeutschen Bundesrepublik zwar laut und sichtbar waren, aber allenfalls eine Minderheit der Bevölkerung erfassten. Zum anderen, weil es schwerfällt, die kleinen, halb legalen, halb illegalen Gruppen und Grüppchen, die sich in der DDR unabhängig von Partei und Staat für Umwelt, Frieden und weibliche Emanzipation einsetzten, einer ostdeutschen „Zivilgesellschaft“ zuzuordnen, die ja noch Anfang 1989 allenfalls in lokalen Keimformen existierte.

Wie nah und wie fern zugleich sich die beiden deutschen Gesellschaften waren und wie sich dieses Distanzverhältnis über vierzig Jahre entwickelte, wird in vielen Facetten fassbar. Wie es nicht anders sein kann, ist auch das Politische immer präsent – „Gesellschaft“ war zwischen 1945 und 1989 weniger denn je eine politikferne, autonome Sphäre. Dass dies im Osten weit mehr galt als im Westen, ist evident. Allerdings zeigt Gunilla Budde auch immer wieder die Grenzen der „Durchherrschung“ (Jürgen Kocka), das Gewicht tradierter Verhältnisse und die Verflechtungen zwischen Ost und West.

Wer auf gut 200 Textseiten ein komplexes Programm abarbeitet, muss auswählen und Schwerpunkte setzen. Insofern sind Lücken unvermeidlich. Die Geschichten aus dem Pfarrhaus von Gumperda illustrieren deutsch-deutsche Beziehungen im Kleinen, vom säkularen Niedergang von Kirche und Religiosität erfährt man aber nicht viel. Die Geschichte der Arbeit und der Arbeitswelten kommt kaum vor und der langfristig so folgenreiche Weg des Westens zur Einwanderungsgesellschaft wird nur gestreift. Auch der gegenstandsnahe Zugang hat seinen Preis. Das Kaleidoskop der vielen „Gesellschaften“ fügt sich nicht zu einer Synthese zusammen – sei es einer „arbeiterlichen“ oder „bürgerlichen“, einer sozialistischen oder liberalen, einer geschlossenen oder offenen, einer modernen oder postmodernen Gesellschaft. Oder ist die Zeit solcher Großkategorien endgültig vorbei? Auch zur Diskussion dieser Frage kann der Band Anstöße geben.

Darüber hinaus werden vor allem die Nicht-Spezialisten und historisch interessierte Laien den Band mit viel Gewinn lesen. Sein differenzierter und anschaulicher Blick auf eine umkämpfte Vergangenheit könnte einiges dazu beitragen, Aufgeregtheiten zu dämpfen, lieb gewonnene Mythen zu entkräften und nostalgischer Verklärung entgegenzuwirken. Nicht zuletzt gewinnt dieser Bericht aus dem Gesellschaftslaboratorium des geteilten Deutschlands aber durch seine elegante und treffsichere Prosa, die weder vor dezenten Anspielungen noch vor Ironie und Humor zurückschreckt. Eine seltene Ausnahme vom sauertöpfischen deutschen Wissenschaftsjargon.